Prosa


 

 

Im Folgenden finden Sie eine Auswahl meiner Texte.

  •  2016 Biografie, MEIN LEBEN /    U.Otte
  •  2017 Biografie, WAS ICH FÜHLE/ Ch.Grieb
  •  l2018 Biografie,  MEINE ERINNERUNGEN in Bildern  und Texten / W. Popp              
  • Gerne erarbeite ich mit Ihnen
  •  auch ihre Biografie.
  • _________________
  • VERÖFFENTLICHUNGEN
  •       AKTUELL: JULI 2018
  •       MOND UND TOD
  •       In der Anthologie
  •        DU FEHLST                       
  •       Geschichten vom  Leben und Tod
  •        Verlag: Q5
  • _______________________
  •  2013 Arrenberger Ansichten
  •  2013 /14 Verschiedene Artikel
  •   im Kulturmagazin "Die Beste Zeit"
  •  2014 Tangofestival Wuppertal
  •  Seit 2010 Texte in verschiedenen Anthologien

Beispiele


Die Liebe aber ist die größte unter ihnen

 

Da sitzen sie im westfälischen Hamm, auf der Bank auf Gleis acht und warten auf den Zug nach Oberstdorf.

Er hält ihre zitternde Hand, und unter dem langen, schwarzen Dirndl sehe ich ein übergeschlagenes Bein, das auch zittert.

Auf dem  kurzen, grauen Haar trägt sie einen Trachtenhut mit schwarzer Feder. Merkwürdig klein, der Hut, merkwürdig starr, das Gesicht der alten Frau.

Der Mann trägt Lederhosen, dazu ein kariertes Hemd und Kniestrümpfe, stramm hochgezogen.

Im Gesicht einen langen, bis auf die Brust reichenden Rauschebart. Ich wundere mich, warum die Kniestrümpfe nicht rutschen.

Er hält die Hand der Frau, schaut auf die Bahnhofsuhr, sagt etwas, schweigt, lässt ihre Hand nicht los. Sie sitzt aufrecht und gerade, wie in einer Kirchenbank,sagt etwas, nimmt den Hut vom Kopf und greift wieder nach seiner Hand. Das Bein zittert. Der Mann ist entspannt, präsent, sicher, ein Fels, ihr Fels, ihr Halt. Wieder ein Blick auf die Uhr. Die Frau hat einen Rollator, es gibt kein Gepäck.

Wie zwei exotische Vögel hocken die beiden da auf Gleis acht zwischen den Reisenden in Jeans und dunklen Jacken.

Die Sonne scheint, es ist warm, zu warm für September. Nichts ist lächerlich, nichts ist komisch an diesen beiden Alten aus Bayern, wie sie da sitzen im westfälischen Hamm, wie sie seine Hand hält, und das Bein unter dem schwarzen Kleid leise zittert.

Ein ängstlicher Vogel ist sie und zerbrechlich, wie sie dort sitzt, aufrecht und gerade im dunklen Dirndl, in der weißen gestärkten Bluse, dem faltigen Hals über dem Dekolleté. Sie ist groß und stämmig und doch so zerbrechlich und ängstlich.

Der Vogel will fliegen und den dummen Rollator zurücklassen, aber niemals die Hand, die sie hält.

Die Züge kommen, wie ein Vorhang schieben sie sich zwischen Gleis acht und neun. Vielleicht, denke ich, bleibt der Hut zurück oder ein schwarzes Gesangbuch. Vielleicht bleibt der Schatten grüner Wiesen und ferner Berge noch irgendwo auf Gleis acht.


Allein mit mir

 

Es war an einem sehr heißen Sommertag.

Seit einer Woche waren die Temperaturen ungewöhnlich hoch, und die drückende Wärme klebte wie zähe Zuckerwatte über einem schwülen Nachmittag.

Kein Windhauch regte sich, und die Leute blieben in ihren Häusern, saßen hinter verschlossenen Schlagläden und schliefen wie von einem langen Lauf ermüdet in abgedunkelten Räumen oder saßen still, jede Bewegung meidend unter bunten Sonnenschirmen auf ihren Balkonen und Terrassen, rührten sich nicht und warteten auf die Nacht, die abkühlende, erlösende Nacht.

Die Stunden des Tages schmolzen ineinander, die Zeiger der Uhr bewegten sich nicht. Die Sonne schien von immer gleicher Stelle, stand Stunde um Stunde und wollte nicht untergehen. Der Himmel verharrte in einem eingefrorenen Blau, und alles, Mensch und Natur, spürte die Fesseln dieser viel zu heißen Sommerstunden. Die Geschäfte in der kleinen Stadt am Vierwaldstättersee hatten über die Mittagszeit geschlossen, und die Straßen waren still und leer. So verlockend manche Bank unter einem schattigen Baum gewesen wäre, zog es mich doch wieder in das alte Antiquariat am Ortseingang. Hier zwischen den alten Büchern fühlte ich mich wohl. Es schien mir der richtige Ort zu sein, um der drückenden Hitze und der merkwürdigen Totenstille auf den Straßen auszuweichen.

Auch hier war die Zeit aufgehoben, waren die Stunden, Jahre und Jahrhunderte miteinander verschmolzen. Auch hier war es warm und still. Das Bedrückende, das Atemlose des Sommers jedoch wich einem sanften Hauch, einem unsichtbaren Lächeln, einem kühlen Quell, der mich erfrischte, sobald ich nur eines der alten Bücher in die Hand nahm. Über drei Etagen gab es in den tiefen Räumen des verwunschenen Hauses Regal an Regal, gefüllt mit unzähligen Büchern. Bücher lagen und standen auf den Treppen, in jeder Ecke und auf jedem Sims, lagen wie schnurrende Katzen an allen erdenklichen Stellen und in jeder vom Sonnenlicht nur spärlich beleuchteten Ecke. 

Wie so oft in den vergangenen Tagen streifte ich durch das Land der Worte, durch das Schloss der Poeten, verlor mich in Gedichten von Nelly Sachs und Erich Fried, blätterte durch Romane von Werner Bergengruen und las Novellen von Guy de Maupassant. Alte, sehr alte Folianten träumten in den Regalen, und ich wagte nicht, sie in ihrem Schlaf zu stören und ging weiter und immer tiefer in das stille Labyrinth hinein. In einem der schmalen Gänge fand ich an der Kopfseite eines Regals unzählige alte Bibeln. Hundert Jahre und älter, stapelten sie sich über- und nebeneinander im tiefen Dornröschenschlaf liegend. Feiner Staub lag wie eine sanftes Tuch darüber. Wie Menschen, die Schutz vor Verfolgung suchen, schienen sie mir hier in einem sicheren Versteck zu sein.

Ja, sie waren hier sicher, und sie waren vergessen. Wem mochten sie gehört haben? In Gedanken sah ich vor mir alte Frauen, Bäuerinnen, die das einzige und kostbarste Buch im Haus am frühen Sonntagmorgen mit in die Messe nahmen. Ich sah Mädchen und Jungen, die ihre Bibel mit in den kirchlichen Unterricht trugen, und Väter, die sich streng dreinblickend auf das Wort Gottes stützten, wenn sie ihre Kinder züchtigten. Vorsichtig nahm ich ein Neues Testament heraus und schlug das Matthäusevangelium auf. Ich hatte es mir, da ich immer alleine in den Räumen war, zur Gewohnheit gemacht, laut zu lesen, wollte den Büchern selbst vorlesen und die Stille der Räume mit ihren eigenen Worten füllen.

Ich fand das Vaterunser und kam an die Stelle wo es heißt: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Da plötzlich hörte ich ein leisen Lachen, dass wohl meiner Stimme ähnlich war, und doch war ich es nicht. „Wer ist da?“, fragte ich erschrocken, und sah mich ängstlich um. “Fürchte dich nicht“, sagte die Stimme spottend, und sie war mir so vertraut, dass es mich gruselte. „Zeig dich!“, sagte ich. „Das geht nicht“, sprach die Stimme. „Ich bin bereits sichtbar, ein zweites Mal würde schon an Zauberei grenzen." Wieder lachte die Stimme, und ich erkannte, dass es meine eigene war. „Was geht hier vor? Wer bist du?"

„Wer ich bin?“ Die Stimme lachte, und nun hielt sie sich nicht mehr zurück. „Das fragst du mich? Vielleicht solltest du dich fragen, wer du bist?"

Einen Moment war es ganz still, dann sagte die Stimme: „Ich bin dein Schatten, dein Gewissen. Ich bin der Teufel in dir, das Böse. Ich bin Hades, der über deine ganz persönliche Unterwelt, deinem kleinem Reich der Toten herrscht. Zugegeben, der Job ist etwas langweilig, Du denkst zu viel nach. Du willst alles so verflixt richtig machen. Du bist beliebt. Du bist so wenig angreifbar, nach außen jedenfalls. 'Erlöse uns von dem Bösen'. Weißt du, was du da liest? Meinst du damit deine gereizten Nerven, wenn der Tag zu warm ist? Oder die Wut, die du spürst, wenn irgendwo großes Unrecht passiert? Was ist das, das Böse? Ist Wut etwas Böses? Ist es Bosheit, wenn man den Nachbarn nicht mag, obwohl er einem nichts getan hat? Oder ist man erst böse, wenn man einen Menschen umbringt, ein Tier quält, Vandalismus betreibt? Wovon bitte, willst du erlöst werden? Von der Versuchung, ein Stück Kuchen zu viel zu essen, dich in den 'falschen' Menschen zu verlieben, der Lust, den Leuten auf den Kopf zu spucken? Und wäre das dann Bosheit? Noch vor wenigen Jahrzehnten galt es in verschiedenen Kreisen böse, zu tanzen. In anderen Kreisen heutzutage ist es böse, Fleisch zu essen. Wer entscheidet, was böse ist? Wechseln nicht die Antworten je nach Lauf der Zeit und je nach der Kultur, in der man aufwächst? Ah, ich weiß was du sagen willst. Böse ist, wer mit Absicht Unrecht tut. Ach, hör mir auf! Was für dich als Unrecht gilt, ist für andere Menschen gutes Recht."

„Aber", stotterte ich, "es geht doch um die Würde. Die Würde des Menschen ist unantastbar, und wo immer sie verletzt wird, ist es böse.“

"Gibt es das Böse in dir? Darum geht es doch. Die Frage wirft dich um, gib es zu! Wenn du ehrlich bist, glaubst du nicht an mich, nicht an das Böse in dir. So einfach kommst du mir jedoch nicht davon. Zugegeben, du klaust nicht, du tötest nicht, du hasst niemanden. All diese Spalten weisen in meinen Notizen eine gähnende Leere vor, stimmt. Unter dem Stichwort Neid findet sich dann aber doch der eine oder andere Eintrag. Ja, ich weiß, das empört dich. Und ich gebe zu, um deinen Neid flattern immer die schwärzesten Trauerflore. Ja, ja, das Leben ist manchmal hart. Wobei ich mich frage, ob Neid etwas Böses ist. Vielleicht ist es einfach nur Neid und sonst nichts. Er ist nichts Gutes, er ist nicht schön, aber ist es böse? Dann wiederum nimmst du bewusst in Kauf, dass andere Menschen auf Grund deiner Taten oder deiner Gier oder deines Begehrens, deines völlig eigennützigen Handelns wegen verletzt werden, traurig und misstrauisch werden. Oft gehören zwei dazu. Aber so sehr geteilte Freude sich verdoppelt, halbiert sich die Bosheit nicht, wenn man sie zu zweit begeht. Es radiert deine Weste deshalb nicht rein, das kann ich dir sagen. Und du, aufgeklärter Mensch, denkst, wenn es hart auf hart kommt, doch nicht nach. Den Verbrechern dieser Welt den Strick an den Hals zu wünschen, um es mal vorsichtig auszudrücken, ist seltsam. Darf man Böses erst tun oder denken, wenn der andere Böses getan hat? Hebt es sich dann sogar auf? Ist damit jede Rache legitim? Ist die Rache demnach die Legitimation der Bosheit? Und was ist dann mit deiner Würde? Gilt sie nicht dem Schuldigen und dem Unschuldigen gleichermaßen? Hast du nicht eben noch gelesen: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern? Ich rede jetzt mal nicht über Vergebung, weil die in meiner Branche eher geschäftsschädigend ist. Und es hat sowieso keinen Sinn darüber zu sprechen, wenn du nicht weißt, was das Böse ist. Ach, wäre es noch Auge um Auge und Zahn um Zahn. Könnte man noch von Ausgleich sprechen, aber nicht mal das ist der Fall. Der Mensch neigt dazu, Schlimmeres zu tun oder zu denken, als ihm angetan wurde. Das ist doch merkwürdig, oder? Erlöse uns von dem Bösen ... Süß, wirklich." Die Stimme lachte spöttisch. „Ach, ich liebe diese Gedankenlosen, die Gutgläubigen, die reinen Gewissens sind, die einfach nicht nachdenken."

Hier war die Stimme laut geworden, und ich hörte eine unterdrückte Wut darin. "Weißt du was? Du gehst dir aus dem Weg, du definierst die Dinge um, machst aus Schuld Notwehr, aus Vorsatz Zufall, du zerredest deine Wut, bis nichts mehr davon übrig ist als ein unverbindliches, unechtes Lächeln. Du hast Angst vor mir, vor dem Bösen in dir. Du glaubst, den Weg des größten Widerstandes zu gehen, indem du dich selbst für schlecht erklärst, sozusagen per Definition! Das gefällt mir, das täuscht mich, manchmal. Doch du weichst damit der Frage nach dem Bösen in dir aus. Du denkst mich klein, du leugnest mich. Und gehst den Themen aus dem Weg, die dich zum Bösen verführen könnten. Du scheust die Entscheidung, du hast Angst, Fehler zu machen, du hast Angst, und das ist jetzt wirklich komisch: Du hast auch Angst, um Vergebung zu bitten!" Die Stimme grölte. „Haha, und vergib uns unsere Schuld, die gar nicht da ist. Dass ich nicht lache!"

"Keine Angst, Anne, wir müssen keine Freunde werden. Ich will dich nicht verführen zum Bösen. Ich habe durchaus mein kleines Auskommen, und der Job ist trotz der Langeweile angenehm. Aber du solltest mich nicht leugnen, nicht unterschätzen, nur weil es irgendwie doch immer eher glatt läuft. Ich kann in dir eine Kraft entfesseln, die dich in Abgründe führt, von denen du bisher nicht ahnst, dass es sie gibt, weil das Böse in dir plötzlich so groß, so mächtig wird. Also schau gefälligst hin und lauf dir nicht ständig davon. Sieh mich an und erkenne, wer du auch bist, wer ich bin ...“

Irgendwo unten hörte ich die Stimme des Antiquars. Es war kurz vor Feierabend, und er wollte mir Bescheid sagen, dass er gleich die Räume schließen würde. Ich schlug die alte Bibel zu und legte sie zurück an ihren Platz. Die Stimme war verschwunden, und alles war still wie am Anfang. Noch immer verwirrt von dem, was ich erlebt hatte, verließ ich das Haus.

Draußen hatte es zu regnen begonnen.


Hundert Jahre

Hundert Jahre hat es dort gestanden, das Haus.

Hundert Jahre stand es auf jenem Grund und Boden, umgeben von einem großen Garten.

Alte Apfelbäume standen darin und Pflaumen, die nur hier so gut gediehen. Es hat kalte Winter gesehen, die kein Ende nahmen. Das Holz war aufgebraucht, und aus der Wiege hörten wir das Baby nicht mehr rufen. Da waren die heißen Sommer und die Mahlzeiten auf dem Hof. August, der stumm war, und Hanna, die er so sehr liebte. Am Tag ihrer Hochzeit mit dem stolzen Rauner Bauern fand man ihn in der Scheune. Mit dem Strick erhängt hat er sich, der August.

Hundert Jahre, wie lange ist das? Kann man auch die Jahre zählen, so weiß man doch nicht, wie sich so viel Zeit anfühlt.

Vater, der früh am Morgen in die Werkstatt ging, und das ratschende Geräusch des Bandstuhls, das mich weckte, noch eh die Vögel zu singen begannen. Der Urgroßvater hatte den Bandstuhl für 600 Taler gekauft, auf Raten, wie mir der Vater erzählte. Seidene Herrenhutbänder wurden gewebt. Heute trägt kaum noch ein Mann einen Hut. Ich habe später Blumenband gewebt. Mir hat der Gedanke gefallen, dass meine Bänder etwas so Schönes wie Blumen zusammenhalten. Mutter war immer schon früh bei den Hühnern und sammelte die Eier, die verstreut im Stroh lagen. Sie war eine rundliche, kleine Frau, und sie kannte so viele Lieder. Ja, wir haben viel gesungen. „Wiede, Wiede Wenne“, „ Im Märzen der Bauer“ und dann die wunderschönen Abendlieder „Der Mond ist aufgegangen“, „Abend wird es wieder “. Manchmal stimmte der Vater mit seiner Brummstimme mit ein und Johannes holte die Geige und begleitete uns.

Hundert Jahre, und nun nehmen sie es fort. Tragen es ab, Stück um Stück. Stück um Stück, Geschichten und Erinnerungen. Die Balken, die mein Urgroßvater zimmerte, als er mit seiner Frau ein Zuhause plante, in dem sie Platz haben würden. „Zehn Kinder möcht` ich haben, und jedes soll ein Zimmer kriegen“, prahlte er stolz und hielt seine Anna fest in den Armen. Das Dach, das zur Hälfte abbrannte in der Nacht, als der Blitz einschlug und Johannes nicht mehr nach Hause kam. Einmal flog der Hahn aufs Dach und traute sich nicht mehr hinunter. Alle standen sie unten und schlugen mit Töpfen und Pfannen, riefen und schrien, aber der Hahn rührte sich nicht. Großvater schließlich kletterte hinauf und wäre fast gestürzt. Er holte den Hahn vom Dach und schlug dem Tier den Kopf ab. Noch eine Weile rannte es über den Hof, doch dann war es vorbei, und Anna kochte eine gute Suppe daraus. Die wärmte im Winter. Stück um Stück nehmen sie die Wände fort. Wände, mit Lehm und Stroh verputzt zwischen den schweren Balken. Da ist die gute Stube, die wir nur benutzten, wenn es Sonntag war oder ein Feiertag. Ich durfte das Zimmer nur in meinem allerbesten Kleid betreten. Hier war es feierlich und traurig zugleich. In der Kirche gab es viele traurige Tage, an die wir denken mussten, und so war es in der Stube immer still. Mit ernsten Gesichtern und in schwarzen Anzügen saßen Vater und Onkel dort und dachten an die Kreuzigung unseres Herrn, oder an all die Toten in unserer Familie, oder an das letzte Abendmahl, oder die Fastentage. Am Sonntag las Vater aus der Bibel vor. Seine Stimme war laut, doch vorlesen konnte er nicht gut.

Und dann gab es noch die Stube, die nur Weihnachten betreten wurde. Dort finden sie vierundzwanzig unterschiedliche Tapeten an den Wänden. Wo es doch ein Zimmer war, das kaum benutzt wurde. Aber so war das damals. Das Schlafzimmer meiner Eltern. Dieser Raum war immer Schlafzimmer. Hier wurden alle Kinder geboren. Wir älteren Geschwister standen auf der Treppe, hörten die Mutter weinen oder schreien. Wir standen in unseren dünnen Nachthemden frierend in der Dunkelheit. Mit großen, ängstlichen Augen schauten wir auf die verschlossene Türe, hinter der die Mutter war und durften nicht zu ihr. Wurden wir erwischt, schickte man uns ins Bett zurück, ohne jede Erklärung. Manchmal blieben wir aber unentdeckt und dann hörte man irgendwann einen anderen Ton. Ein Baby schrie, und wieder gab es ein Kind mehr im Haus. Lene schrie nicht, als sie geboren wurde. Sie war tot, als die Hebamme sie auf die Welt holte. August schrie nur ganz leise. Er war stumm und konnte nicht hören. In diesem Zimmer starb auch der Großvater. Als Kinder mussten wir leise sein und durften nicht im Haus spielen. Als er gestorben war, kam die Totenwäscherin und dann der Pfarrer. Der Spiegel im Hausflur wurde mit einem schwarzen Tuch verhängt, und es gab Streuselkuchen für die Trauergäste.

Vom Weg aus sehe ich, wie sie das Haus abtragen. Wand für Wand, Balken für Balken. Geschichte für Geschichte. Zum ersten Mal seit hundert Jahren fällt das Sonnenlicht auf den alten Dielenboden in der dunklen Küche. Kerben und Narben im Holz werden sichtbar. Ja, und da ist auch die verkohlte Ecke. Die alte Martha hatte damals das Feuer zuerst gesehen und es gleich gelöscht, eh das Haus hinüber war. Wie es passierte, konnte später niemand sagen. Alle waren auf dem Feld, als es geschah. Das war noch lange ein Thema im Ort, und man sprach von einem Geist, der keine Ruhe gefunden habe. Ich habe mich noch lange Zeit danach gefürchtet und manchmal, wenn ich alleine war, meinte ich einen Schatten in der Küche zu sehen. Unter dem Dach wohnte die Großmutter bis zu ihrem Tod. Oft hörten wir sie dort oben ruhelos durch die Zimmer gehen. Manchmal rief sie nach dem Großvater, der doch schon so lange tot war. Dann wieder saß sie am Fenster und schaute uns beim Spielen zu. Sie mochte nicht mehr auf den Hof gehen. Auch sie hatte Angst vor den Geistern, vor denen in ihrem Kopf.

Bei Elses Hochzeit haben die Nachbarn Kränze gebunden und an die Haustür gehängt. Das war ein schönes Fest, und Else war die schönste Braut, die es je gegeben hat. Mutter hatte ihr ein Kleid aus Fallschirmseide genäht, und ich habe den Blumenstrauß gefangen. Aber ich habe nicht geheiratet, denn der Albert war im Krieg und kam nicht mehr zurück. Ich habe den Strauß zum Trocknen in die Werkstatt gehängt, und dort ist er geblieben. Ob sie ihn schon gefunden haben?

Die Werkstatt war mir immer der liebste Raum, und auch als ich schon nicht mehr gut sehen konnte und mir die Arbeit zu schwer wurde, bin ich dort an jedem Tag gewesen. Ich habe dort gesessen und geträumt, und in mir höre ich noch immer den Takt des Weberschiffchens, das mein Leben begleitet hat, das ihm den Rhythmus gab. Er war der Herzschlag des Hauses. Einhundert Jahre lang schlug er von den frühen Morgenstunden bis weit in den Abend hinein, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Nun schweigt er still. Das Haus wird abgetragen und an einem anderen Ort wird es wieder errichtet. Die Geschichten, die Menschen, das Lachen und Weinen, die Erinnerung daran aber hüte ich tief in mir. Dort werden sie bleiben, bis ich das Weberschiffchen nicht mehr hören kann.