Venedig

So bin ich also nach Venedig gefahren ohne vorherige Buchung und mit vielen Bedenken lieber Freunde, bezüglich der Hotelpreise. :-) Ich habe nur drei Minuten vom Bahnhof entfernt, in einem sehr italienischen, sehr einfachen kleinen Hotel mit Hinterhaus in schmaler Gasse, mit steiler Stiege und wenig vertrauenswürdigem Feuerlöscher im leicht schäbigen Hausflur, ein kleines Zimmer bewohnt. Darin ein Tisch, ein Stuhl, ein Waschbecken und ein Fenster, dessen Holzrahmen verzogen waren und sich nicht richtig schließen ließen. An den weißen Zimmerwänden klebten vereinzelte die Reste toter Mücken. Aus dem Fenster hinaus schaute ich auf einen engen Hinterhof, der umgeben von schmalen Häusern war, die in dem maroden Rot und Orange der Wände mit den grünen Schlagläden und den blauen Viereck Himmel korrespondierten. Großartige Möwen, Adlern gleich, saßen stolz auf den Dächern, wie es sich für den italienischen König der Lüfte, gehört. Ich blieb drei Tage.

 

Venedig.

Es ist, als würde der Zug durch Michael Endes ”Unendliche Geschichte" reisen, und ich, auf dem Rücken des Drachen Fuchur sitzend, über das weite Nichts einer grauen und leeren Landschaft fliegen. Die letzten Kilometer vor dem Ziel fährt der Zug über das Wasser, gleitet durch einen diesigen, verschleierten Tag. Die nächste Station ist Venecia-Metro. Vom meinem Abteilfenster aus erblicke ich hohe Baukräne am Ufer. Wie dürre Arme eines riesigen Skeletts ragen sie nur schemenhaft erkennbar aus dem Wasser. Ein Mann steht in einem kleinen Boot und angelt. Was fängt man in unsichtbaren Stunden? Unsichtbare Fische oder die Gedanken der Reisenden, die noch im Zug, schon den träumenden Blick auf die verwunschene Stadt gerichtet haben? Mein Herz klopft, als ich in Venedig-Santa Lucia aussteige. Es ist ein Sackbahnhof, ein Ankommbahnhof. :-) Keine Durchreisestation. Hier kommt man an, endlich. Die Suche hat eine Ende, der Weg hat sein Ziel - Venedig.

In der Touristen-Information bekomme ich einen DIN A4-Zettel ausgehändigt, auf dem alle preiswerten Unterkünften der Stadt verzeichnet sind. Ich bin ohne Karte unterwegs und habe keine entsprechenden Apps auf meinem uralten Handy. Die Adressen auf dem Blatt ähneln alten Zaubersprüchen, geheimnisvoll und nicht zu enträtseln. Es wird sich schon was finden.

“Vertrauen, Anne, Vertrauen …” Ich nehme meinen Rucksack wieder auf und verlasse das Bahnhofsgebäude. Was hatte ich erwartet? Ich weiß es nicht. Vor mir öffnet sich ein Tor, eine Stadt, die mit nichts zu vergleichen ist. Die da ist und immer schon da war. Angekommen an einem Ort, der, so scheint es, nicht auf mich gewartet hat, der immer schon da war und sich selbst genügt und mich zugleich in stiller Selbstverständlichkeit in seine Mitte nehmen will. Venedig begrüßt mich mit einem Gewitter, mit „Pauken und Trompeten“. :-)

Der Regen fällt so dicht, so senkrecht, so heftig auf den leeren Vorplatz, dass ich weiter nichts tun kann, als still da zu stehen und zu staunen, alles aufzunehmen, gierig zu “trinken” wie eine Verdurstende. So heftig wie das Unwetter war, so schnell war es vorbei, und nur wenige Minuten später füllt sich der Platz wieder mit Menschen und Stimmen. Wie so oft in den kommenden Tagen erlebe ich hier Venedig zum ersten Mal wie ein überdimensioniertes Theater, eine Bühne, auf der ein monumentales Stück gespielt wird.

Dirk werde ich einige Tage später die folgende SMS schreiben.

Venedig ist kein Museum, so wie es der Reiseführer sagt. Venedig ist ein Theater und jedes Haus, jede Brücke, jeder Platz ist eine Bühne, vor denen die traurigsten Dramen, die schönsten Romanzen und verschiedensten Lustspiele aufgeführt werden.

 

Das kleine Hotel gleicht einer Puppenstube. Alles dort ist auf engsten Raum untergebracht. Die Rezeption füllt eine Nische im schmalen Flur, die nur durch eine steile Treppe von der Straße aus zu erreichen ist. Eine Frau mittleren Alters in einem langen dunklen Kleid begrüßt mich in gebrochenem Deutsch. Ihr schwarzes Haar fällt offen über ihre schmalen Schultern hinab, und ihre dunklen Augen wirken durch den aufgetragenen Lidstrich noch dunkler. Sie wirkt ein wenig verhärmt und hat doch etwas sehr Stolzes in der Art, wie sie vor mir steht. Ich mag sie sofort und bitte das Universum im Stillen, hier bleiben zu dürfen. :-)

Ich darf und brauche mich nicht einmal festzulegen, wie lange ich das Zimmer haben will. Weiß sie, dass ich länger bleiben werde als eine Nacht? Ich glaube sie ist eine Zauberin, und es würde mich nicht wundern, wenn das schmale Haus bei einem zukünftigen Besuch in Venedig nicht mehr zu finden wäre, wenn Treppe und Rezeption verschwunden wären.

Ich bekomme ein Zimmer im Nachbarhaus, in jener kleinen Gasse, die am Abend nur von einer schiefen und alten Lampe am Hauseingang erhellt wird, und die mit ihren gelben, grellen Licht wie eine zu stark geschminkte Frau wirkt, und den schmalen Gang zwischen den großen, müden Häusern zu beiden Seiten ausleuchtet.

Der Frühstücksraum befindet wieder in einem Durchgangsflur in einem Stockwerk über der Rezeption. Hellgrüne, zierliche Tische und Stühle stehen dicht beieinander unter einem bunten Bild, das die einzige, größere Wand völlig einnimmt. Tanzende Narren und fliegende Pferde, Paare beim Wein, ein Regenbogen, der Kanal, Brücken, Häuser und Kirchen schweben in bunten Farben durch das Gemälde.

Als ich nach meiner ersten Nacht, in der ich der Reihe erschlagener Mücken noch einige hinzu gefügt habe, in den Frühstücksraum komme, sitzt ein alter, dunkelhäutiger Mann bereits an einem der Tische. In einer Mischung aus Deutsch und Englisch stellen wir uns einander vor. Er ist Amerikaner und für einige Wochen mit seiner Frau in Europa unterwegs.

“Meine Frau wird sich freuen, Sie kennenzulernen. Sie kommt aus Deutschland“, erzählt er und lächelt mich freundlich an. Kurz darauf lerne ich eine zierliche und zerbrechlich wirkende alte Dame kennen. Sie spricht Deutsch mit sehr starken Akzent. Ich hätte nicht sagen können, woher sie wohl kommen mag. Als ich ihr von meinem Heimatort erzähle, kann sie es nicht glauben. Auch sie kam ursprünglich aus Wuppertal, eh sie vor über 40 Jahren in die USA ging und dort geblieben ist. Wir freuen uns sehr über unsere Begegnung.

Die beiden hatten noch gar nicht mit ihrem Frühstück begonnen, zuerst nimmt der Mann die Hand seiner Frau in die seine und dankte Gott für diesen Morgen und das Frühstück auf dem Tisch. Es ist so eine schöne und schlichte Geste, dass für einen Moment, der kleine Raum zu einer Kathedrale wurde, zu einem brennenden Dornbusch, einem Ort an dem Gott war…