AUf dem Mittellandkanal

An einem schönen Junitag im Sommer 2015 stand ich auf der Burg Rheinfels und weit unter mir lag der uralte und mächtige Fluss. Der Sommerwind verfing sich in meinem Haar, und die Sonne schien freundlich auf die wunderschöne Landschaft am Mittelrhein. Auf den Bergen sah ich die Ruinen vieler stolzer Burgen, lautlos zogen die Schiffe über das Wasser. Und wieder einmal hörte ich den Rhein mich mit leiser spöttischer Stimme rufen: „Trau dich, los komm schon, mach dich auf den Weg.“ Diesmal habe ich nicht weggehört, sondern spontan eine Woche auf einem Binnenschiff gebucht. Bis wenige Tage vor der Abreise wusste ich nicht, wohin die Reise genau gehen würde. Doch dann kam die Mail mit der Einladung, in Minden an Bord zu kommen. Das Ziel sei Magdeburg.

Die Sonne geht auf über den Mittellandkanal und verwandelt ihn in ein goldenes Band.

Nebelschwaden liegen geheimnisvoll darüber und in den feinen Luftgespinsten lösen sich die Wesen der Nacht auf und verschwinden in den Tiefen des Wassers. Unser Anlegeplatz liegt an einem schmalen Radweg. Bäume und Büsche setzen in der lichten Landschaft zwischen hohen Gräsern und Weideflächen die einzigen Akzente. Enten fliegen auf, als wir um kurz nach fünf Uhr morgens ablegen. Über Stunden geht es durch das ehemalige innerdeutsche Grenzgebiet. Wo früher Soldaten den Kanal überwachten, kreisen heute nur noch die Greifvögel über die weite Landschaft und schrauben sich dank der guten Thermik immer höher in die Luft. Unser Weg führt an grünen Uferböschungen und schmalen Pfaden vorbei. Bäume und Sträucher säumen das Ufer. Der Kapitän macht mich auf einen großen Biberbau aufmerksam. Es ist heiß, es ist still, und lautlos ziehen die weißen Wolken unter dem blauen Sommerhimmel. Über viele Kilometer beobachte ich die weißen Zitronenfalter, wie sie unermüdlich zwischen den Bäumen hin und herfliegen, ob auf der Suche nach Nahrung oder aus purer Lebensfreude, kann ich nicht sagen und, wer weiß, vielleicht bedingt das eine das andere. Ich werde den Steuermann fragen, ob sie auf dieser Strecke nicht auch noch die Funktion der Entfernungsanzeige haben. Gefühlt sehe ich alle 20 bis 30 Meter einen der kleinen Schmetterlinge. Ich muss schmunzeln bei dem Gedanken, dass man die Entfernung, die das Schiff zurücklegt in Zitronenfaltern berechnet. Ein schöner Gedanke, finde ich, und für diese verträumte Landschaft so passend.

Zwei Tage später.

Am frühen Nachmittag passieren wir die letzte Schleuse und dann geht es in den Magdeburger Hafen, Hier werden wir Bauteile für Windkrafträder abholen. Wir werden die kommenden zwei Tage hier bleiben, denn unser Schiff wird erst am Donnerstagmorgen beladen. Und wieder einmal ist es ein ruhiger und schöner Platz, an dem wir ankern. Schotterwege und Wiesen prägen das Bild. Die verschiedenen Industriegebäude, die in einiger Entfernung stehen, verlieren in dieser stillen Landschaft, inmitten der Natur, ihre unbeseelte Präsenz und wirken fast ein bisschen vergessen. Eisenbahnwagons liegen träumend am Kanal zwischen hohen Gräsern, Schafgarben und Margeriten. Von meinem Fenster aus blicke ich auf eine dicht bewachsene Böschung. Von meiner kleinen Wohnung, die unterhalb des Hanges liegt, scheinen die Blumen geradewegs in den Himmel zu wachsen. Wunderschön sieht das aus! Große Windräder stehen wie besorgte Riesenmütter vor unserem plötzlich so klein erscheinenden Schiff, und wir wissen, dass wir in dieser Nacht in ihrem Schatten und Schutz gut behütet schlafen dürfen.