Schweiz

Liebe Freundin,

da bin ich also wieder in der Schweiz.

Das Fenster ist weit geöffnet, wie ich es am liebsten habe, und die Berge fallen mir vor die Füße und begrüßen mich freundlich und neugierig wie große Elefanten, die gemächlich mit ihren Rüsseln winken. Es ist schön, wieder hier zu sein, und, bei allem Unbekannten, doch auch schon ein bisschen Vertrautes zu haben. An die Schweine im nachbarlichen Bauernhof muss ich mich jedoch gewöhnen. Schon letztes Jahr riefen sie unglücklich aus dem Stall, den sie nicht verlassen dürfen. Sie brüllen ihre Angst über die Wiese, und das mit Recht. Im vergangenen Sommer wurde ich einmal am frühen Morgen davon wach, weil ein großer Lkw die Tiere abholte. Ihr ängstliches Quicken hatte mich geweckt. Ich wohne also in der Nachbarschaft gefangener Schweine. Neben dem Haus das Stanser Horn, ein Berg, der stumm und mitleidend auf die Schweine herabschaut. Eine schmale Landstraße verbindet die Orte miteinander. Gleich daneben kommt in regelmäßigen Abständen ein Regionalzug daher. Um Bett, Schweine, Berg, Straße und Bahn, breitet sich ein weites Tal aus, und dahinter ragen die Berge in den Himmel. Schützend und noch nicht so hoch, dass die Sonne am Morgen nicht allzu hoch klettern muss, um uns zu wecken. Nach unserem Einkauf machen Birgit und ich uns auf dem Weg zum Birkenstock. Mit dem Auto fahren wir durch diese merkwürdig unsichtbare Landschaft. Bäume und Sträucher am Wegesrand stehen, in weißen Frost erstarrt, auf müden, grünen Wiesen, und der Nebel verwischt die Sicht auf Felder und Straßen. Häuser tauchen kurz auf und verschwinden wieder in milchigen Dunst. Nur wenige Menschen erscheinen wie Schattenwesen und stehlen sich wieder  fort. Schließlich geht es in engen, kurvenreichen Straßen den Berg hinauf. Der Nebel wird immer dichter, und Birgit muss sehr langsam fahren. Einzelne Autos kommen uns entgegen. Ein Ausweichen ist nur schwer möglich. Immer wieder kommen wir dem Abgrund sehr nah, der nur durch einige lange Stöcke am Straßenrand markiert ist. Es wird immer nebliger. Nicht nur der Vierwaldstädtersee, der irgendwo unter uns liegt, ist verschwunden, auch der Ort, durch den wir fahren, lässt sich nur erahnen. Die Konturen der Häuser am Straßenrand verschwimmen, und kleine Nebenwege führen ins Nichts. Plötzlich lichtet sich der Nebel und erste Flecken blauen Himmels sind zu sehen. Noch mag ich nicht glauben, was meine Augen doch schon erblicken. Mehr und mehr zieht sich der Nebel zurück, und so lassen wir das Nichts hinter uns. Dann plötzlich fahren wir in den hellen Sonnenschein hinein. Ein tiefblauer Himmel leuchtet über die Bergketten, auf denen nur wenig Schnee liegt. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe aber, das hier, übertrifft es bei Weitem. Wir sind in einer anderen Welt, vielleicht im Himmel, vielleicht ist das schon ein Stück der sichtbaren Ewigkeit. Ja, es gibt ein Leben nach dem Tod, denke ich und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wir setzen uns auf die Terrasse eines wunderschönen alten Hotels und bestellen uns eine Kanne Tee. Noch immer weiß ich nicht, wie mir geschieht. Von hier oben aus sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Nebelmeer, wie es als eine dicke, weiße und geschlossene Masse zwischen den Bergen liegt. Und nun weiß ich auch, wie eine Nebelbrandung aussieht. An den Ausläufern dieses „Meeres“ ziehen Nebelschwaden lautlos den Hang hinauf, umschließen das alte Chalet auf der steil ansteigenden Wiese und die kleine Gruppe Kinder, die dort stehen, dann ziehen sich die Nebelschwaden zurück und kommen nach kurzer Zeit erneut über die Wiesen den Berg hinauf. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Bin mir nicht sicher, ob ich es je werde richtig beschreiben können. In diesem unwirtlichen „Meer“ werden die Bäume zu Korallen und die Tannen am „Ufer“ verwandeln sich in dicke Schilfrohre. Der stille Ozean des Nebels ist ein Geheimnis. Ich sitze dort und bin unglaublich berührt und sehr, sehr glücklich.