Götterdämmerung

Es ist früher Morgen, und ein Pferd zieht, vor einen Wagen gespannt, die Sonne langsam über den noch dunklen Himmel, der, so berichtet die germanische Mythologie, von vier Erdzwergen gehalten wird. Nordri, Sudri, Westri und Austri sollen sie geheißen haben. Eine merkwürdige Geschichte, und doch kann ich mir an diesem Ort manches vorstellen. Ich stehe auf dem Schlossberg in Quedlinburg. Zwei Raben sitzen auf einem Fries der alten Stiftskirche aus dem 13. Jahrhundert, und ihr Blick geht von dort oben weit in den Harz hinein. Aber auch mein Ausblick ist schon beeindruckend.

Eine hügelige, dicht bewaldete Landschaft breitet sich vor mir aus. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen liegen die Getreidefelder golden in der Morgensonne, und am Horizont erhebt sich die Mittelgebirgskette des Harzes mit seiner höchsten Erhebung, dem Brocken, der von hier aus gut zu erkennen ist. Direkt unter meinen Füßen ruht die Stadt mit ihren wunderschönen alten Fachwerkhäusern, deren rote Dächer einen schönen Akzent in die grün-goldene Umgebung setzen. Kleine Gassen und enge Straßen führen kreuz und quer durch den Ort, und bei meinem ersten Besuch schien es mir ein Labyrinth zu sein, das immer neu zu sprechenden Häusern und Plätzen führt, mich im Kreis dreht und dann plötzlich doch den Blick auf Schlossberg oder Marktplatz freigibt.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit bin ich in Quedlinburg und stehe wieder einmal an der Wiege deutscher Geschichte. Diese Stadt und ihre Region sind Zeitentore. Einmal hindurch gegangen, zeigt mein Handy minütlich ein anderes Datum. Germanische Mythologie, die Geschichte berühmter Herrscher, Mittelalter, Neuzeit, die Jahrzehnte der DDR, Gegenwart und Zukunft, finden, verflechten, berühren sich, und ziehen mich in ihren Bann.

Ich lese viel in diesen Tagen ... alles was mir in die Hände kommt. Da ist das frühe Mittelalter, die Herrschaft des ersten deutschen Königs Heinrich I. (der hier auf dem Schlossberg seit dem Jahre 936 begraben liegt), die Regentschaft der Äbtissinnen, die über 800 Jahre Quedlinburg regierten. Weit über 1200 denkmalgeschützte Fachwerkhäuser aus sechs Jahrhunderten erzählen und wispern, flüstern und berichten mit knarrender Stimme vom Leben der Menschen in vergangenen Zeiten. Jedenfalls ist das der Eindruck bei meinem Spaziergang an diesem frühen Morgen. Noch sind die Straßen menschenleer. Nur die beiden Raben begleiten mich auf meinen Weg durch die Stadt. Mein Handy zeigt das Jahr 1737. Ich stehe vor dem Geburtshaus des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock. Er war das älteste von 17 Kindern, und um diese Zeit Schüler am Quedlinburger Gymnasium. Hinter der Türe höre ich Stimmen und Geräusche. Wie mag der Junge in so einer großen Familie zurechtgekommen sein? Schon als Schüler begann er an seinem bedeutendsten Werk, „Der Messias“, zu schreiben.

Etwas unterhalb des Hauses komme ich auf einen kleinen Platz und befinde mich nun im 10. Jahrhundert. Heinrich, Herzog von Sachsen, ist auf der Vogeljagd. Die Finken sind kleine und flinke Tiere und wahrlich nicht leicht zu fangen. Da passt es ihm gar nicht, ausgerechnet jetzt gestört zu werden. Hochrangige Honoratioren tragen ihm die Bitte vor, König von Sachsen zu werden. Ein Moment in der deutschen Geschichte, der einer gewissen Komik nicht entbehrt, und den vor einigen Jahren ein Quedlinburger Künstler in einer wunderschönen Brunnenskulptur wiedergegeben hat. Über den großen Marktplatz biege ich in die mittelalterliche Neustadt ein, wo ich fast mit einer Frau in einem langen Kleid und einer Arzttasche an der Hand zusammenstoße. Sie geht an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Es ist die erste deutsche Ärztin, Dorothea Erxleben, die (mein Handy zeigt das Jahr 1749) vielleicht auf dem Weg zu einem Patienten ist. Erst 150 Jahre nach ihr gab es wieder eine Frau, die das Medizinstudium absolvierte und in Deutschland als Ärztin arbeitete.

Am Schreibtisch vor einem offenen Fenster schreibt ein Mann einen Brief an seinen Freund, den Maler Lyonel Feininger und verspricht ihm darin, seine in Quedlinburg aufbewahrten Grafiken durch die Zeit des Nationalsozialismus zu retten. Feininger emigriert 1937 in seine Geburtsstadt New York. Seine Bilder werden später von den Nazis in der Ausstellung der „entarteten Künstler“ gezeigt. In Quedlinburg gibt es heute ein Feininger Museum. Dort sind heute jene geretteten Grafiken und Zeichnungen zu sehen.

Und auch die Zeiten der DDR und die Jahre danach werden lebendig, vor allem in meinen Gesprächen mit meinen Pensionswirten. Sie erzählen mir von ihrem Alltag, der manchmal schwierig, oft schön, und nicht minder normales Alltagsleben war wie überall. Ich höre aber auch von dem Leid, das es nach der Wende gab, als so mancher Quedlinburger sein Haus verlassen musste, weil es Besitzansprüche Westdeutscher gab. Manche Menschen nahmen sich damals aus Verzweiflung das Leben.

Was für ein Morgen? In meinem Zimmer angekommen, öffne ich das Fenster und sehe noch einmal die beiden Raben. Laut krächzend fliegen sie ein letztes Mal über die kleine Pension. Dann sind sie verschwunden.

Quedlinburg! UNESCO Weltkulturerbe und eine wunderschöne Stadt wie ein lebendiges Geschichtsbuch, an dem immer weitergeschrieben, gestaltet und gearbeitet wird.

Drei Tage später. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich sitze im Atelier. Es regnet. Ein Gewitter zieht auf, und ich denke an den germanischen Gott Donar, der mit seinem von Zwergen geschmiedeten Hammer auf die Erde schlägt, und so grollende Donner und helle Blitze über die Stadt wirft.

Und die Raben? Sie werden wohl wieder auf dem Fries der alten Stiftskirche sitzen und auf andere Frühaufsteher warten, denen sie ihre verzauberte Stadt zeigen können.